Als Icek Ostrowicz den Brief von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier öffnete, war er überrascht. „Damit habe ich in meinem Leben nicht gerechnet“, sagt der 95-Jährige. „Weil das für dich eine Selbstverständlichkeit ist“, sagt Elfi Ostrowicz zu ihrem Mann. Dieser nickt und erwidert: „Mein Ziel war es nicht, eine Ehrung zu bekommen, sondern junge Menschen zu unterstützen.“ Und das tut Icek Ostrowicz.
Seit Jahrzehnten engagiert er sich für die Versöhnung zwischen den Religionen und für die Integration der jüdischen Gemeinde im öffentlichen Leben. Nach dem Tod seines Freundes Gerhard Starck im Jahr 2000 war Ostrowicz einer der Mitgründer der Gerhard C. Starck Stiftung, die begabte Menschen jüdischen Glaubens mit Stipendien unterstützt. Sie sollten Bildungs- und Lebenschancen erhalten, die Icek Ostrowicz und seine Generation junger jüdischer Menschen durch den Holocaust nicht hatten.
Dafür wurde der Mönchengladbacher nun mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Es ist die höchste Anerkennung, die die Bundesrepublik für Verdienste um das Gemeinwohl ausspricht. Nathanael Liminski, Minister und Chef der Staatskanzlei, sagte bei der Verleihung des Ordens: „Seit vielen Jahrzehnten setzt sich Icek Ostrowicz für den interkulturellen Dialog, für die Förderung junger Menschen und für die Belange der jüdischen Gemeinde in Mönchengladbach ein. Icek Ostrowicz ist eine Persönlichkeit mit gleichermaßen beeindruckender und herausragender Lebensleistung. Ich verneige mich vor so viel unerschütterlichem Lebensmut und großem Engagement.“
Über 500 Stipendien hat die Gerhard C. Starck Stiftung bereits vergeben. Mit ihnen konnten junge Menschen studieren. Icek Ostrowicz selbst hat nie eine Universität besucht. „Mir ist das verwehrt worden, ich durfte nicht mal zur Schule gehen“, sagt er. Icek Ostrowicz wurde 1927 in Kielce in Polen als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Als er 13 Jahre alt war, marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein, und der Zweite Weltkrieg begann. Icek Ostrowicz wurde von seiner Familie getrennt und zur Arbeit verpflichtet. Zwei Arbeitslager, drei Konzentrationslager und einen sogenannten Todesmarsch überlebte er. Als er nach Ende des Krieges zurück in seine Heimatstadt kam, erfuhr er, dass seine gesamte Familie ins Konzentrationslager Treblinka deportiert und dort ermordet worden war. Daraufhin verließ er seine Heimatstadt und kam über Umwege 1947 allein als 19-Jähriger nach Mönchengladbach.
Im Rheinland startete er in ein neues Leben, baute sich ein Unternehmen in der Textilbranche auf, heiratete und bekam eine Tochter. Seiner Frau ist Icek Ostrowicz sehr dankbar. Seit fast 50 Jahren sind sie ein Paar. „Ich wurde durch die Unterstützung bestärkt“, sagt er. „Das ist ein Geben und Nehmen“, sagt seine Frau. Die Auszeichnung hat nicht nur beide gefreut, sondern auch aufgewühlt und Erinnerungen wachgerufen.
Wie sich die Verständigung unter den Religionen in der Stadt verändert, beobachtet er seit seiner Jugend. „Die Situation hat sich sehr verändert. Teilweise zum Guten, teilweise zum Negativen“, sagt Ostrowicz. In den 1940er- und 1950er-Jahren nahm er eine angespannte Stimmung in Deutschland wahr. „Nach dem Krieg hat sich niemand getraut, das Wort ‚Jude‘ überhaupt auszusprechen“, sagt Ostrowicz. Er hatte den Eindruck, dass sich viele mitschuldig fühlten, auch wenn sie vielleicht keine Täter waren. Diese Stimmung änderte sich über die Jahre. Zuletzt beobachtet er, wie der „eingefrorene Antisemitismus“ wieder hochkommt. „Die Befürchtungen sind da, dass es schlimmer wird“, sagt Ostrowicz. „Früher waren es die Juden, jetzt sind es Muslime.“ Auch eine gestiegene Fremdenfeindlichkeit nimmt er wahr. Mit Verständigung hofft Ostrowicz, dem etwas entgegensetzen zu können. „Wir tun, was wir tun können“, sagt er. „Shalom, Frieden ist das wichtigste überhaupt“, sagt seine Frau. Icek Ostrowicz nickt.
Als 19-Jähriger kam Icek Ostrowicz allein nach Mönchengladbach. Seit 1947 lebt er in der Stadt.